Aus dem Limmi| 13.12.2022

Notfall am Limit

Den wachsenden Patientenandrang können Notaufnahmen wie jene im Spital Limmattal manchmal kaum noch bewältigen

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Bericht aus NZZ, Gian Snozzi (Text), Maurice Haas (Bilder)

Rote, auf den Asphalt gemalte Pfeile führen in die Notaufnahme. Wer es auf eigenen Beinen bis hierher schafft, findet sich bei der automatischen Doppeltür vor dem Empfang des Spitals Limmattal wieder. «Häufig bildet sich hier eine Schlange, die durch den Windfang bis nach draussen reicht», erklärt Rita Sager-Dübendorfer, die Leitende Ärztin auf der Notfallstation. «Dann betragen die Wartezeiten bis zu vier Stunden.» Hier am Empfang werden die Ankömmlinge eingeteilt – nach dem fünfstufigen Emergency-Severity-Index. 1 bedeutet: Muss sofort lebensrettend behandelt werden. 2 und 3 sind ebenfalls mehr oder weniger dringlich. 4 und 5 kommen hingegen meist nicht rechts in die Notaufnahme: Sie werden nach links in die Notfallpraxis geschleust.

Erst 2018 ist das neue Notfallzentrum am Spital Limmattal eröffnet worden. Doch es befindet sich bereits am Anschlag. So ergeht es den meisten Notfallstationen im Land. Die Gründe sind vielfältig. Engpässe beim Personal werden als das Hauptproblem erachtet. Ein zusätzlicher Faktor könnte ein Anstieg der Bagatellfälle sein. Sowohl im nationalen als auch im Zürcher Parlament wurde deshalb gar die Einführung einer Notfallgebühr von 50 Franken diskutiert. Diese soll Personen, die kein gravierendes Gesundheitsproblem haben, vom Notfallbesuch abhalten.

«Kein Tag ist wie der andere»

An diesem Abend beugen sich in der Notfallpraxis zwei Männer und eine Frau über ihre Handys. Ein wenig fahl im Gesicht sind sie zwar, wirken aber nicht beunruhigt. Dass sie eine Phase ohne den üblichen Grossandrang erwischt haben, ist ihr Glück. Statt Hektik herrscht Ruhe.

Ruhe hatte Sager-Dübendorfer nicht im Sinn, als sie sich für eine Laufbahn als Notfallärztin entschied. Ihr ursprüngliches Fach, die innere Medizin, war ihr zu fad. Suchte sie den Kick? «Ein bisschen schon. Auf dem Notfall hatte ich Gelegenheit, auf Patienten jeden Alters mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern zu treffen. Das hat mir gefallen. Kein Tag ist wie der andere.» In ihren wie neu aussehenden Sportschuhen schreitet Sager-Dübendorfer zügig durch die in einem Rechteck angelegten Gänge der Station. Falls es bei ihr nach siebzehn Jahren gewisse Ermüdungserscheinungen geben sollte, ist davon nichts zu spüren.

«Die Notfallpraxis», erklärt Sager-Dübendorfer, «ist unser interner hausärztlicher Dienst.» Viele Spitäler verfügen über solche vorgelagerten Praxen, um den Andrang überhaupt bewältigen zu können. Diese Einrichtungen kümmern sich primär um die Bagatellfälle. Doch Sager-Dübendorfer hört den Begriff nicht gerne. Man könne nicht so pauschal von Bagatellen sprechen: «Ein ausgerenkter Finger oder eine Riss-Quetsch-Wunde müssen binnen Stunden behandelt werden. Diese Verletzungen sind nicht lebensgefährlich. Trotzdem kann man nicht tagelang warten, bis man einen Termin bei der Hausärztin bekommt.» Der Mangel an Hausärzten ist denn auch ein weiterer Grund, warum sich landesweit Notaufnahmen vor dem wachsenden Patientenandrang kaum retten können.

«Das Personal, das wir jetzt benötigen, gibt es gar nicht. Selbst wenn wir sofort reagieren, dauert es Jahre, bis die Lücke gefüllt ist.»

Rita Sager-Dübendorfer leitet die Notfallstation. Auch der Mangel an Hausärzten erhöhe den Druck auf den Notfall, sagt sie.

Der Patient mit dem Glückstag

Ausgerenkte Finger und zu nähende Wunden gab es heute noch keine. Hingegen ein älteres Ehepaar, beide mit einer Corona-Infektion und Atemnot. Sie mussten stationär aufgenommen werden. Anschliessend klagte jemand über Gefühlsstörungen in Armen und Beinen – ein Schlaganfall. Ausserdem war da eine äusserst aufgewühlte Frau mit Alkoholvergiftung. Schwierig zu handhaben, aber wenigstens musste die Polizei nicht anrücken. Ein Mann mit Druck auf der Brust zog seinen glücklichen Tag ein. Der Verdacht auf Herzinfarkt erhärtete sich nicht, er konnte ambulant behandelt werden. «Gerade so etwas ist alles andere als eine Bagatelle», erklärt Sager-Dübendorfer. «Der Patient hatte zuvor schon einmal einen Herzinfarkt. Es war richtig und wichtig, dass er hierhergekommen ist.»

Eine ältere Frau litt an Brechdurchfall und starkem Flüssigkeitsverlust. Jetzt wird sie stationär versorgt. Darüber hinaus gab es unter anderem eine schwere allergische Reaktion und einen plötzlichen Bewusstseinsverlust. Zudem Panikattacken. «Die werden immer häufiger», sagt Sager-Dübendorfer. Ein anderer Patient hatte während Wochen zusehends an Körpergewicht verloren. «Das kann ein Anzeichen für etwas Bösartiges sein.» Womöglich wartete der Betroffene länger ab, bekam es dann aber mit der Angst zu tun und suchte deshalb den Notfall auf. «Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine Bagatelle. Trotzdem war das Notfallzentrum eigentlich nicht die richtige Anlaufstelle.»

Soll künftig eine Gebühr verlangt werden, wenn jemand mit einr Bagatelle auf den Notfall geht? Die Spitäler sind skeptisch.

Die Zahl der Patientinnen und Patienten hat sich verdoppelt

wei Merksätze kristallisieren sich heraus: Ein hoher Schweregrad bedeutet nicht automatisch, dass ein Notfall vorliegt. Hingegen lässt sich nicht schliessen, dass «nichts Ernsthaftes» gleichbedeutend mit einer notfallmedizinischen Bagatelle ist. Diese Komplexität der medizinischen Wirklichkeit ist einer der Gründe, warum Sager-Dübendorfer die «Notfallpauschale für Bagatellfälle» skeptisch sieht. «Am Notfallempfang, wo es schnell gehen muss, sind Diskussionen über die Pauschale schlicht unmöglich.» Zudem befürchtet sie einen administrativen Mehraufwand, um hinterher die Schulden einzutreiben. «Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass eine Zweiklassenmedizin entsteht und Menschen nicht mehr herkommen, weil es für sie zu teuer ist», sagt die Leitende Ärztin. Schon heute kommt es vor, dass Leute mit nichtigen Verletzungen, aber dem nötigen Kleingeld den Krankenwagen rufen, während sich andere, die dringend abgeholt werden müssten, zu Fuss bis zum Spital schleppen.

Das Problem ist also schwierig zu lösen. Aber dass es eines ist, ist unbestritten. In nur zehn Jahren hat sich die Zahl der Notfallpatienten am Spital Limmattal verdoppelt. Im letzten Sommer kam es gar zu einem jähen und unerwarteten Ansturm von Kranken und Verletzten. Nicht nur am Spital Limmattal war die Situation heikel. Im ganzen Kanton kam es immer wieder vor, dass Notfallstationen keine Patienten mehr aufnehmen konnten. «Das war bedrohlich», sagt Sager-Dübendorfer.

Unerklärliche Schwankungen

Was da genau los war, weiss bis heute niemand. Der Anstieg betraf sowohl geringfügige als auch gravierende Fälle. Kein Krankheitsbild stach heraus, und erstaunlicherweise kam es auch vermehrt zu Unfällen. Inzwischen schwankt das Patientenaufkommen von Woche zu Woche. Mal sind sämtliche Kojen besetzt, und die Patienten liegen auf Betten im Gang. Dann ist wieder weniger los. So wie an diesem Abend. «Erklären kann ich mir das nicht», räumt Sager-Dübendorfer ein und korrigiert sich dann selber: «Was heisst schon, heute ist ‹wenig los›?» In der Tat: Zehn Kojen der Notaufnahme sind besetzt. Nur zwei sind frei wie auch die beiden Betten im Schockraum. Kurzum: Man ist gut ausgelastet, verfügt aber über den nötigen Spielraum, um Notfälle aufzunehmen und nach höchsten Standards zu behandeln.

Wer hierhin kommt, hat ein ernstes Problem. Im Schockraum werden jene Patienten versorgt, die lebensbedrohlich krank oder verletzt sind.

Was der Normalfall sein müsste, ist inzwischen die Ausnahme. Die regellosen Fluktuationen aufzufangen, erfordert ein ausserordentliches Improvisations- und Organisationstalent. Etliche Überstunden mussten im Sommer gemacht werden, und zeitweise wurden sogar Sanitäter und Sanitäterinnen aus der Ambulanz in der Pflege eingesetzt. Von der jüngsten unerklärlichen Überlastungssituation einmal abgesehen fallen Sager-Dübendorfer eine Reihe von Ursachen für die sich zuspitzende Situation ein. Diese reichen von der wachsenden und zunehmend älter werdenden Bevölkerung über den jahrzehntelangen Spardruck bis hin zu Dr. Google, der Menschen verunsichert und in die Notaufnahmen treibt. Auch die Angst vor Stellenverlust veranlasst vor allem Angestellte mit niedrigen Löhnen, nach Feierabend die Notaufnahme aufzusuchen, statt sich beim Arbeitgeber Zeit für einen Hausarztbesuch auszubedingen. Zudem hätten es viele verlernt, bei einem medizinischen Problem eine Weile abzuwarten, bis es sich vielleicht von selbst legt. Ganz allgemein habe das Körperverständnis abgenommen.

«Das laugt einen aus»

Manchmal harzt es aber auch in den Spitälern selbst. Nämlich dann, wenn das Bettenhaus voll ist und die Patienten, die dorthin verlegt werden müssten, auf dem Notfall hängenbleiben. «Das grösste Problem ist zweifellos das Personal», sagt Sager-Dübendorfer. «Ausfälle von Ärztinnen und Ärzten können wir kaum kompensieren, und in der Pflege ist die Situation in den letzten Jahren eskaliert.»

Zum Team der Pflegenden gehört Edisa Sadikovic. «Es ist mein Traumberuf», sagt die aus Deutschland stammende Frau rundheraus. Sie erzählt: «Die Wertschätzung und der Zusammenhalt im Team sind gut. Die Unterbesetzung und die hohen Personalfluktuationen machen uns aber zu schaffen.» An Tagen wie heute sei sie froh, sich um komplexe Patienten ausführlich kümmern zu können. «In den Überlastungsphasen ist es manchmal schwierig, die selbstauferlegten Standards zu halten.» Gute Bewältigungsstrategien seien deshalb unerlässlich. «Im Sommer habe ich jeden Tag bis zu zwei Stunden Überzeit gemacht. Das laugt einen aus. Wenn ich nicht gerade ein Nachdiplomstudium in Notfallpflege machen würde, hätte ich mir vielleicht auch überlegt, den Job an den Nagel zu hängen.»

Ein Traumjob, der sie oft auch auslaugt. Edisa Sadikovic arbeitet als Pflegefachkraft in der Notfallabteilung des Spitals Limmattals.

«Probleme sind da, um gelöst zu werden», lautet ein Leitsatz von Sager-Dübendorfer. Sie macht aber auch deutlich, dass man es sich nicht leisten kann, Angestellte wie Sadikovic zu verlieren. «Wir müssen der Pflege unbedingt mehr Sorge tragen. Bloss sind wir eigentlich zu spät dran. Das Personal, das wir jetzt benötigen, gibt es gar nicht. Selbst wenn wir sofort reagieren, dauert es Jahre, bis die Lücke gefüllt ist.» Deshalb blickt sie mit Sorge auf den Winter, wenn wieder vermehrt Belegschaft krankheitshalber ausfällt. Doch wenigstens an diesem Abend sollte es für einmal ruhig bleiben. Auf dem von einer Plastikhülle geschützten Tastentelefon an Sager-Dübendorfers Seite klingelt kein Alarm. Die hellgrauen Schiebetüren der besetzten Kojen sind sorgsam verschlossen. Kein Wimmern, kein Stöhnen, kein Schreien, kein Weinen lässt sich vernehmen. Der Doppelschockraum bleibt leer. Es riecht nicht einmal nach Spital. Aber ein Mann mit Bart und frisch einbandagiertem Arm sucht den Ausgang. Sager-Dübendorfer zeigt ihm, wo es langgeht.

Dieser Artikel wurde am 13. Dezember 2022 in der Neue Zürcher Zeitung  publiziert.

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