Im Blickpunkt| 02.12.2021

Chefin sein heisst Feuerwehr sein

Je höher die Karriereleiter, desto schwieriger wird es für Frauen – gerade im Gesundheitswesen. Das Spital Limmattal weist in höheren Positionen einen überdurchschnittlichen Frauenanteil auf. Zufall oder Planung? Fünf Ärztinnen mit Führungsfunktion unterhalten sich über ihren Werdegang, die Situation im LIMMI – und darüber, was das alles mit der «Schwarzwaldklinik » und «Dr. House» zu tun hat.

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Text von Flavian Cajacob

Mann auf Visite, Frau auf Visite. Wer trägt einen Arzttitel, wer ist Pflegefachkraft? Ohne das eine gegen das andere ausspielen zu wollen, liegt für viele Patientinnen und Patienten die Antwort schnell auf der Hand: Professor Brinkmann ist mit Schwester Christa unterwegs. «Dieses Bild hält sich bis zum heutigen Tag», sagt Dr. Isabel Marcolino, Chefärztin am Institut für Anästhesie und Intensivmedizin des Spitals Limmattal. Seit Ärzteromane die Herzen zum Schmelzen bringen, seit «Dr. Schiwago» und «Schwarzwaldklinik», rettet Mann Leben, Frau päppelt derweil Patienten auf. «Selbst bei ‹Dr. House› ist das nicht anders», zitiert Isabel Marcolino ein prominentes Beispiel aus dem Fernsehen, «und die Spitalserie ist ja nun alles andere als von gestern. Die Männer sind immer die Macher, Frauen die Sensiblen.» Verstaubte Ansichten und Klischees sind das eine. Gegebene Umstände das andere. Isabel Marcolino sitzt zusammen mit vier Kolleginnen an einem Tisch: Dr. Eva Achermann, Leiterin Pneumologie und Chefarzt-Stellvertreterin Medizinische Klinik; Dr. Sonia Frick, Chefarzt-Stellvertreterin stationäre Innere Medizin; Dr. Franziska Grafen, Chefarzt-Stellvertreterin Chirurgische Klinik und Leiterin endokrine Chirurgie sowie OP-Koordination; PD Dr. Silke Potthast, Chefärztin Institut für Radiologie. Allesamt bekleiden sie eine Führungsposition im LIMMI, tragen Verantwortung, sind gefordert, gefragt. «Und trotzdem haben wir uns innert kürzester Zeit auf einen gemeinsamen Termin einigen können», lacht Sonia Frick, «und das erst noch ohne Doodle. Soll noch jemand sagen, Frauen seien nicht lösungsorientiert!»

Je höher die Karrierestufe, desto...

Knapp 77 Prozent der Mitarbeitenden im Spital Limmattal sind Frauen. Damit liegt das LIMMI über dem landesweiten Durchschnitt. Gemäss Branchenverband H+ Die Spitäler liegt der Frauenanteil in Schweizer Spitälern und Kliniken bei 74 Prozent. Traditionell haben die Frauen vor allem im Bereich Pflege die Oberhand: Auf 85 Frauen kommen 15 Männer – im Spital Limmattal sind es sogar 88 auf 12. Eine sinnvolle Aufgabe, Jobsicherheit auch in schwierigen Zeiten sowie die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit machen den Beruf insbesondere für Frauen nach der Familienzeit attraktiv.

Anders hingegen sieht es bei den Kaderstellen aus. Je höher die Karrierestufe, desto kleiner wird der Frauenanteil. Generell und in allen Spitälern im Lande. Die letzte greifbare Erhebung aus dem Jahre 2014 weist bei Ärztinnen und Ärzten einen Frauenanteil von 22 Prozent aus. In Chefarztposition sind es 11 Prozent. Dass diesbezüglich in der Zwischenzeit etwas gegangen ist, zeigt das Beispiel LIMMI: Hier kommt auf drei Chefärzte eine Chefärztin (25 %), bei den Leitenden Ärztinnen und Ärzten beläuft sich der Frauenanteil auf knapp 40 Prozent – und in der Position der Oberärztin oder des Oberarztes befindet sich das weibliche Geschlecht inzwischen in der Mehrzahl (61 %).

Ärztinnen mit Führungsfunktion

«Weiche» Faktoren mit hohem Wert

Zufall oder gewollt? Die fünf Ärztinnen in der Runde schreiben den Umstand zwei konkreten Faktoren zu: «Zum einen gibt es immer mehr Frauen, die Medizin studieren und promovieren», führt Eva Achermann aus; «zum anderen spielt sicherlich auch das Klima eine wesentliche Rolle, das an einem Spital herrscht. Frauen messen kulturellen und sozialisierungsbedingten Werten in der Regel weit mehr Bedeutung bei als Männer.» Eine Aussage, die im Übrigen von zahlreichen Studien aus den unterschiedlichsten Branchen gestützt wird. «Der Bedarf an Vernetzung und Verlässlichkeit, er ist zumindest bei mir sehr ausgeprägt», betont Isabel Marcolino – und blickt auf vier nickende Kolleginnen. Ob anlässlich gemeinsamer Projekte oder einfach beim Mittagessen: «Wir versuchen den Austausch ganz bewusst, proaktiv und auf unterschiedlicher Ebene zu kultivieren», fügt Sonia Frick an.

Konkrete, diktierte Frauenförderung gibt es im Spital Limmattal nicht. Auch nicht in den obersten Chargen. «Was Frauen in Führungsfunktionen anbelangt, so haben wir weder Richtlinien, papierene Absichtserklärungen noch eine Quotenregelung», sagt dazu Spitaldirektor Thomas Brack und fügt ein dezidiertes «wir machen es einfach» an. Ausschlaggebend, ob jemandem eine Führungsposition übertragen wird, seien die generelle Eignung, das Wissen, die Leistung «und nicht das Geschlecht», so Brack.

Keine der fünf Ärztinnen, die sich an diesem Nachmittag über ihren Werdegang, über ihre Aufgaben im Alltag und ihre Erfahrungen unterhalten, hat denn auch das Gefühl, ihren Posten aufgrund der biologischen Tatsache erhalten zu haben, dass sie eine Frau ist. Was alle gleichermassen unterstreichen, ist die im Vergleich zu anderen Institutionen «eher frauenfreundliche» Haltung im Haus, gerade was (männliche) Vorgesetzte und Spitalleitung anbelangt. «Wie das gesamte Spitalwesen befinden wir uns auch im LIMMI mitten in einem Prozess», sagt dazu Silke Potthast. «Es findet ein Umdenken statt, verkrustete Vorstellungen müssen aufgebrochen werden, und es gilt zwangsläufig, sich mit neuen Voraussetzungen und Gegebenheiten zu arrangieren.» Dies indes gelte für sämtliche Stufen, für sämtliche Berufsgruppen – und für alle Geschlechter.

Die gläserne Decke

Ein Stichwort, das im Laufe des Gespräches immer wieder fällt, ist: «arrangieren ». «Die Situation ist, wie sie ist, je nach Persönlichkeit kann man und frau besser oder schlechter damit umgehen », ergreift Franziska Grafen das Wort. «Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf meine Arbeit, die ich ja sehr gerne mache, als dass ich mich über Rollenbilder und den Umgang damit aufrege.» Trotzdem: «Nach wie vor ist es in der Realität für Frauen sehr schwierig, die gläserne Decke zu durchstossen», sagt Grafen. Der Begriff «gläserne Decke» steht als Metapher für den Umstand, dass Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsgruppe – in diesem Fall also qualifizierte Frauen – nicht in Führungspositionen aufsteigen.

Was dies angeht, so orten alle fünf Ärztinnen den Knackpunkt in der gleichen Ecke: Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ab einem gewissen Punkt sei es in ihrem Metier schwierig, den Job in Teilzeit auszuführen, erklären sie. Bei einer Führungsposition werde dieser bei 80 Prozent angesiedelt – dies sei aber explizit von der Fachrichtung abhängig. Gerade Teilzeitund Jobsharing-Modelle wären eigentlich erforderlich, damit Mütter nach der Familienzeit Schritt für Schritt wieder in ihren Beruf zurückkehren könnten. Für Isabel Marcolino ein Gebot der Stunde, dem sie aktiv Folge leistet. «Die Mehrheit in meinem Oberarzt-Team wird durch Frauen gestellt, die Teilzeit arbeiten.» Über Jahre hinweg hätten diese zugunsten der Familie im Beruf zurückgesteckt, jetzt, da die Kinder aus dem Gröbsten raus seien, wollten sie wieder Gas geben. «Und genau solche Frauen sollen eine Chance erhalten», betont Marcolino. «Männer sind sich dieser Problematik häufig nicht bewusst. Sie entscheiden sich nicht zwischen Kind und Karriere, Mann hat einfach Kind UND Karriere.»

So sei denn an dieser Stelle die Frage erlaubt, wer von den fünf Frauen in der Runde selber Kinder hat. Isabel Marcolino zieht die Augenbrauen hoch und blickt ihre Kolleginnen an. «Naja, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbelangt, sind wir wohl alle nicht gerade das beste Beispiel – von uns hat niemand selber Kinder.» Und Franziska Grafen ergänzt, dass sie und ihre Kolleginnen recht eigentlich die erste «Generation » seien, welche die vorab erwähnte gläserne Decke durchbrochen habe. «Es ist zu hoffen, dass die nächste Generation dies auch mit Kinder schafft.»

Der Mix macht’s aus

Alleine Mann für die Situation verantwortlich zu machen, wäre wohl fehl am Platz und ist auch nicht im Sinne der fünf Gesprächsteilnehmerinnen. «In eine Führungsfunktion muss man und frau hineinwachsen, das ist für beide Geschlechter dasselbe. Die Rahmenbedingungen und die Ausgangssituation aber, die unterscheiden sich gerade in struktureller oder kultureller Hinsicht sicherlich», sagt Franziska Grafen. In diesen Belangen besitze das Spital Limmattal einen grossen Vorteil: «Es ist klein genug, damit wir uns untereinander alle kennen, uns austauschen und pragmatisch auf Ereignisse und Entwicklungen reagieren können. Andererseits haben wir aber auch die notwendige Grösse, um Spezialisierung zuzulassen, Qualität zu bieten und spannende Funktionen auf Führungsebene anbieten zu können.»

Teamspirit, Arbeitszeitmodelle, Entlöhnung, Kinderbetreuung, das Klima, die Umgangsformen: All dies spielt mit, wenn Führungspositionen besetzt werden sollen – gerade mit Blick auf die Frauen, gerade im Spitalwesen. «Es braucht zwischendurch schon Nerven wie Stahlseile», stellt Silke Potthast fest; «ich denke, wir Frauen bekommen mehr mit von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich da im Leben von unseren Kolleginnen und Kollegen abspielen, als unsere männlichen Kollegen.» Ganz generell bringe die Führungsposition eine Vielzahl an administrativen Aufgaben mit sich. «Chefin zu sein heisst, Feuerwehr zu sein. Man kommt morgens ins Spital und weiss nicht, wo und wann es brennen wird, aber man weiss, es wird ganz bestimmt brennen!» Deshalb sei Flexibilität unabdingbar, meint Silke Potthast.

Eva Achermann muss schmunzeln. Sie, die seit zwanzig Jahren im Spital Limmattal tätig ist, hat einen ultimativen Vergleichswert: «Damals standen wir vor der Herausforderung, bei der internen Dienstplanung ständig die militärischen Wiederholungskurse unserer Kollegen im Auge zu behalten, das hat sich heutzutage mehr oder weniger erübrigt. Jetzt sind es Schwangerschaften, aber auch die familiären Verpflichtungen von Mann und Frau, die im Fokus der Planung liegen.»

In der «Schwarzwaldklinik» übrigens ist man das Thema Frauenförderung auf ganz eigene Art und Weise angegangen. Schwester Christa, die gute Seele des Hauses, machte nachträglich den Doktor, ehelichte Professor Brinkmann und zog so als Dr. Christa Brinkmann in die Klinikleitung ein. Und bei Dr. House? Der kann eh niemanden neben sich ausstehen, egal, ob Mann oder Frau. Die fünf Ärztinnen am runden Tisch müssen lachen. Zum Glück sehe der Alltag im Spital anders aus, als Fernsehserien es glauben machen wollten. Wobei auch die Realität äusserst amüsante Anekdoten zu schildern wisse, werfen Sonia Frick und Franziska Grafen ein. Dr. Frick: «Mann auf Visite, Frau auf Visite – es gibt schon immer mal wieder Patientinnen und Patienten, die merken, dass vielleicht der Herr nicht der Doktor, sondern die Pflegefachkraft sein könnte.» Dr. Grafen: «Der Schluss, den sie daraus ziehen, greift aber wiederum auch ein bisschen kurz: Die Frau, die ist in diesem Falle dann eben ganz einfach die Oberschwester!»

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